Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 31. Oktober 2021
Nur Trinken im Restaurant
© Inez Maus 2014–2024
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Einige Beiträge auf diesem Blog beschäftigten sich bereits mit Fragen der Ernährung bei Autismus. Ich ging der Frage nach: Wie essen Hunde?, beschrieb, wieso Der weiße Grieche mit Nichtbeachtung gestraft wird, und erklärte, warum Rot gefärbtes Eis ein Problem darstellen kann. Fragen der Ernährung beschäftigen sich aber nicht nur mit der Beschaffenheit und den Bestandteilen von Lebensmitteln, mit der Art des Verzehrens dieser Lebensmittel und mit der Zubereitung von Speisen, sondern auch mit den Orten, an denen Speisen verzehrt werden. Zu diesen Orten gehören Restaurants. Bei dem Vorhaben, ein Restaurant aufzusuchen, tun sich allerdings mit einem autistischen Familienmitglied oft viele Hürden und Probleme auf. Sensorische Reize und Stress durch das soziale Miteinander stehen hier an erster Stelle. Barrieren können aber auch durch Ignoranz und Unverständnis des bedienenden Personals und der anderen Gäste entstehen, wie das folgende Beispiel zeigt. Das erwachsene Geschwisterkind einer jungen autistischen Frau erzählte mir, dass die gesamte Familie aus Anlass seines Studienabschlusses essen gehen wollte – einschließlich der schwer beeinträchtigten Schwester. Im Restaurant saß die Schwester ruhig auf ihrem Platz und drehte einen Sensorik-Ball zwischen den Handflächen. Der Bruder kommentierte, dass dies einigen Gästen auffiel, aber niemanden störte. Speisen und Getränke wurden bestellt, wobei die Familie darum bat, eine der Speisen zum Mitnehmen zu verpacken. Das Getränk der Schwester füllte der Bruder in ein Plastikgefäß um, aus dem sie dann trank. Die Gerichte wurden serviert und fast alle begannen zu essen. Die Mutter der jungen Frau band der Tochter die Serviette um, holte ein mit Brei gefülltes Gefäß aus der Tasche und gab dann der Tochter beim Essen mit einem Löffel Hilfestellung. Die junge Frau hatte rigide Essensgewohnheiten, sodass sie nur breiförmige Nahrung in konstanter Zusammensetzung zu sich nahm (nehmen konnte). Die Familie hielt diese Vorgehensweise für einen guten Kompromiss, um den Abschluss des Sohnes nach ihren Vorstellungen zu feiern. Allerdings hatten sie nicht mit den Reaktionen der anderen Gäste gerechnet. Einige von ihnen beschwerten sich beim Personal über die Anwesenheit der autistischen jungen Frau – sie fühlten sich bei ihrem kulinarischen Genuss gestört und äußerten dies auf eine beschämende Art und Weise. Der Inhaber des Restaurants trat daraufhin an den Tisch der Familie. Er gab die Bedenken einiger Gäste weiter, fügte hinzu, dass er natürlich behinderte Menschen in seinem Restaurant willkommen heiße, aber dass es nicht sein kann, dass diese Menschen nur Plätze belegen und keine Speisen verzehren. Den Hinweis auf das Gericht zum Mitnehmen schien er zu überhören. Der Sohn schloss seinen Bericht mit der Aussage, dass die Familie weiterhin nach einem passenden Restaurant suchen werde und dass sie das fragliche Restaurant nicht ihren Freunden und Bekannten empfehlen werden. Die Behindertenfeindlichkeit, die in diesem Restaurant praktiziert wurde, lässt sich nicht durch den Abbau von Barrieren aus der Welt schaffen. Es ist eine Art von Behindertenfeindlichkeit, die jederzeit und überall auftreten kann, aber nicht muss. Entscheidend sind hier das Auftreten und Handeln der umgebenden Personen – ein weiteres Beispiel zeigt, wie man es besser machen kann. Auch wir verspürten als Familie irgendwann den Wunsch, gemeinsame Restaurantbesuche möglich zu machen. Zur Einschulung unseres jüngsten Sohnes wagten wir den mutigen Versuch, das Mittagessen zum ersten Mal in einer Gaststätte einzunehmen, da wir diesen Tag nicht in der Küche verbringen wollten. Dies war für Benjamin, unserem autistischen Sohn, der erste Kontakt mit einer solchen Lokalität. Auf der Speisekarte fand sich selbst bei den Kindergerichten nichts, was Benjamin essen wollte/konnte oder durfte. Deshalb beschlossen wir, für unser autistisches Kind nur „nackte“ Nudeln zu bestellen. Benjamin war mit dieser Wahl äußerst zufrieden, er zeigte sich sogar erleichtert – der Kellner dagegen wirkte verwirrt. Er versuchte, uns alle möglichen Saucen und Gemüsesorten zu den Nudeln zu empfehlen, was wir jedoch höflich ablehnten. Daraufhin brachte die Bedienung einen Teller mit vielen kleinen Saucenklecksen zum Probieren. Benjamin schob diesen Teller unverzüglich und ziemlich heftig zur Seite, sodass die Kleckse allesamt ein Stückchen auf dem Teller verrutschten, aber noch vor dem Rand zum Stillstand kamen. Sofort schnappte sich unser jüngster Sohn voller erwartungsfroher Begierde diese Platte voller kulinarischer Erlebnisse, probierte sie genüsslich durch, fand viele der dargebotenen Saucen äußerst lecker und zweifelte nun an seiner vorherigen Essenauswahl. Letztendlich brachte der Kellner für Benjamin doch wie gewünscht einen Teller voller gekochter Nudeln, ohne jegliche Zugabe. Aber das Küchenpersonal hatte sich dabei außerordentlich viel Mühe gegeben und ein Ornament aus verschieden geformten und unterschiedlich gefärbten Nudeln arrangiert. Alle Anwesenden waren begeistert von so viel Aufmerksamkeit, Benjamin jedoch begann entspannt seine Nudeln zu verspeisen.* Zum Weiterlesen: Wie essen Hunde? Der weiße Grieche Rot gefärbtes Eis *Die abschließende Szene wurde zuerst hier veröffentlicht.