Ein Abend in Groß
Woltersdorf
Am
frühen
Nachmittag
komme
ich
in
Groß
Woltersdorf,
einem
80-Seelen-Ort
in
der
Prignitz,
an
und
treffe
im
gesamten
Ort
nur
ein
einziges
Lebewesen.
Ein
graues
Schwein
mit
säuberlich
aufgestellten
Rückenborsten,
das
einem
Mittelalterfest
entlaufen
wirkt,
trottet
die
Straße
entlang,
als
würde
diese
ihm
ganz
allein
gehören.
Auf
meiner
Höhe
angekommen,
bellt
es
plötzlich.
Ein
bellendes
Schwein?
Nein,
ein
Hund
hinter
dem
Gartenzaun,
an
dem
das
Schwein
gerade
entlangläuft,
macht
sich
bemerkbar.
Wahrscheinlich
tut
er
dies
nicht
um
des Schweines, sondern um meiner willen.
Nach
einem
kurzen
Aufenthalt
im
Gasthaus
zur
„Goldenen
Gans“
mache
ich
mich
auf
den
Weg
zur
Kirche
des
Ortes,
um
die
Veranstaltung
vorzubereiten.
Die
Dämmerung
verdrängt
bereits
den
Tag,
der
sich
mit
einem
schwachen
Licht
noch
zur
Wehr
setzt.
Schwach
genug,
um
die
erleuchtete Kirche bereits
strahlen zu lassen.
Die
Technik
ist
von
den
Organisatoren
zuvor
aufgebaut
worden.
Während
ich
in
der
Märchenstube
der
Gaststätte
„Zur
Hexe“
die
nach
der
Veranstaltung
geplante
Gesprächsrunde
vorbereite,
werden
in
der
Kirche
meine
zwei
kleinen
Änderungswünsche
betreffs
der
Technik
sofort umgesetzt.
Jetzt
ist
der
Ort
gar
nicht
mehr
so
unbelebt
wie
noch
Stunden
zuvor.
Das
Schwein
ist
unauffindbar,
dafür
sitzen
vor
der
Kirche
drei
gut
gelaunte
Katzen,
so
als
hätten
sie
in
der
Veranstaltungsausschreibung
gelesen,
dass
Frau
„Maus“
ihnen
heute
Abwechslung
bringen
könnte.
Weder
die
beiden
Parkeinweiser
vom
Wahrberge-Verein
noch
die
zahlreich
eintreffenden
Autos,
die
Gäste
aus
ihrem
Inneren
freilassen,
scheinen
die
Katzen
irgendwie
zu
beeindrucken.
Der
kalte
Tag
im
März
lässt
den
Frühling
noch
nicht
einmal
erahnen,
die
Kirche
kann
nur
mit
einigen
Heizpilzen
angewärmt
werden,
das
Thema
der
Veranstaltung
ist
bedrückend
–
und
trotzdem
füllt
sich
die
kleine
Kirche
mit
Gästen wie schon lange nicht mehr.
„Zum
Verhungern
freigegeben
–
‚Kinder-Euthanasie‘
im
Nationalsozialismus“
lautet
das
Thema
der
Veranstaltung,
die
sich
aus
meinem
Vortrag
zum
Thema
„‚Euthanasie‘
behinderter
Kinder
von
1939
bis
1945“
und
eingebetteten
Stücken
aus
Tino
Hemmanns
Werk
„Hugo.
Der
unwerte
Schatz“,
gelesen
von
der
Meyenburger
Bibliothekarin
Isolde
Pickel,
zusammensetzt.
Die
von
mir
konzipierte
Veranstaltung
kam
durch
gemeinsame
Initiative
des
CJD
Prignitz,
des
Wahrberge-Vereins
und
des
Pfarrsprengels
Lindenberg/Buchholz zustande.
Vor
mehreren
Jahren
stieß
ich
auf
oben
erwähntes
Buch.
Im
Laufe
des
Lesens
wurde
mir
schmerzlich
bewusst,
dass
mein
autistischer
Sohn,
hätten
wir
zur
damaligen
Zeit
gelebt,
auch
der
„Kinder-Euthanasie“
zum
Opfer
gefallen
wäre.
Und
wir
hätten
als
Eltern
nichts
dagegen
unternehmen
können,
denn
bei
einer
Weigerung
zur
Auslieferung
unseres
Kindes
an
die
entsprechende
Kinderfachabteilung
wäre
uns
das
Sorgerecht
für
unser
Kind
entzogen
worden.
Diese
brutale
Erkenntnis
führte
in
den
folgenden
Jahren
zu
meiner
intensiven
Beschäftigung
mit diesem Thema.
Trotz
der
Kühle
im
Gebäude
und
der
moralischen
Kälte
des
Themas
herrscht
in
der
Kirche
während
der
Vorträge
eine
schockiert-aufmerksame
Stille,
die
sich
noch
einige
Minuten
fortsetzt,
nachdem
meine
letzten
Worte
verklungen
sind.
Niemand
springt
auf,
keiner
schaut
auf
sein
Handy
–
ich
habe
das
Gefühl,
nicht
einmal
die
kalten
Hände
wollen
sich
die
Besucher
warm
reiben.
Nach
der
Veranstaltung
teilt
mir
ein
Zuhörer
Folgendes
mit:
„Sie
haben
es
geschafft,
das
Grauen
nicht
in
Bildern
zu
zeigen,
aber
dafür
im
Kopf
stattfinden zu lassen.“
Während
der
anschließenden
Gesprächsrunde
in
der
Märchenstube
werden
nicht
nur
die
Hände
an
warmen
Getränken
gewärmt,
sondern
die
Gespräche
führen
allmählich
wieder
in
die
Gegenwart.
Im
Austausch
mit
den
Einwohnern
des
Ortes
erfahre
ich
viel
über
die
im
Ort
befindliche
Wohnstätte
für
erwachsene
Menschen
mit
Autismus
und
natürlich
über
das
Verhältnis
zu
deren
Bewohnern.
Ich
spüre,
dass
die
Bewohner
zu
einem
selbstverständlichen
Teil
der
Gemeinschaft
geworden
sind.
Ich
erfahre,
dass
Unterstützung
gegeben
wird,
wenn
sie
notwendig
ist,
ohne
erst
lange
das
Wer,
Wann
oder
Wie
zu
diskutieren.
Ich
habe
das
Gefühl,
dass
Inklusion
hier
ohne
bürokratische Hürden gelebt wird.
Am
anderen
Morgen,
als
ich
mich
auf
den
Weg
zum
Frühstück
in
die
Gaststätte
begebe,
begegnet
mir
eine
kleine
Gruppe
Spaziergänger.
An
vielen
anderen
Orten
dieses
Landes
hätte
diese
kleine
Gruppe
die
Aufmerksamkeit
anwesender
Personen
erregt,
hätte
vielleicht
nicht
unbedingt
wohlwollende
Blicke
auf
sich
gezogen.
Blicke,
von
denen
ich
noch
sehr
gut
weiß,
wie
sie
sich
anfühlen,
wenn
man
mit
einem
Kind,
welches
sich
nicht
der
Norm
konform
verhält,
unterwegs
ist.
Hier
werden
die
Bewohner
der
Wohnstätte
auf
ihrem
morgendlichen
Spaziergang
mit
den
gleichen
wohlwollenden
Blicken
bedacht, die allen Frühaufstehern zuteilwerden.
© Inez Maus 2014–2024