Der Streit um den heiligen Baum (1/3)
© Inez Maus 2014–2025
Dies ist ein Gastbeitrag meines Sohnes Benjamin.
„So, noch einen Klecks Leim, Gaston, dann hat der Loki wieder seine Hand“, bat Ferdinand, als er sachte die rechte
Hand der blechernen Wasserpuppe zwischen Zeigefinger und Daumen hielt. Mit der Pinzette in der rechten Hand
entnahm er aus einem Holzkästchen ein klitzekleines, aus Magirium geschliffenes Plättchen. Gaston währenddessen
näherte den Leimpinsel vorsichtig dem Handrücken der Puppe, dessen Blech zur Seite gewölbt worden war, sodass man
das innere Drahtgeflecht mit den Plättchen sehen konnte. Kurz hielt der Lehrling inne, weil seine Hand zitterte. Doch
nach einem tiefen Atemzug festigte sich diese und mit einer leichten Bewegung war der Leim an jene Stelle getupft
worden, die ein Plättchen missen ließ. Sogleich setzte Ferdinand eben jenes ein, legte die Pinzette ab und hielt seine
Finger in die Hand der Puppe hinein, ohne aber das innere Drahtgeflecht zu berühren. Stattdessen tropfte etwas weiß
leuchtendes Mana aus seiner Fingerkuppe heraus und berührte das Plättchen, sodass die Elementarmagie des jungen
Gesellen den Leim rasch erhärten lassen konnte.
Auf dieselbe Art verschloss Ferdinand geschwind den Handrücken der Wasserpuppe, bevor er diese sanft wie ein kleines
Kind vom Tisch hob und sie Annika reichte, welche zusammen mit ihrem Lehrmeister angespannt der Reparatur
beigewohnt hatte: „Hier, bitte sehr. Nun kann er beidhändig wieder Unfug treiben.“ „Oh, ich danke dir so sehr“, strahlte die
Puppenspielerin ihn an und nahm die Puppe entgegen, sie wie ihr eigenes Kind in den Armen wiegend. „Kann ich ihn
gleich ausprobieren?“ „Natürlich“, bejahte Ferdinand. Zusammen mit dem Lehrling Gaston und dem alten Puppenmeister
gingen sie in den kleinen Vorführraum, der sich mit der Werkstatt hinter dem Verkaufsraum des kleinen Wasserpuppen-
Geschäftes befand. Dessen Mitte vereinnahmte eine Theke mit einem großen, flachen Becken, in das bereits Wasser
eingelassen worden war. Aufgeregt setzte Annika die Lokipuppe in das Becken hinein und steckte dann ihre Finger am
Rand ins Wasser. Jenes begann sogleich um ihre Kuppen herum leicht zu wirbeln, bevor leuchtende
Bindfadenströmungen sich hin zu der zusammengesackten Lokipuppe schlängelten. Durch kleine Schlitze in den Füßen
drang es hinein und küsste die Plättchen, nun an jene gebunden.
Wasserkraft fuhr in den blechernen Loki und er erhob sich. Im Becken stehend hielt er seine kleine Rechte hoch und
bewegte jedes einzelne seiner winzigen Fingerglieder, die allesamt sich geschmeidig regten. Dann hob der kleine Loki
seinen Kopf und sah Ferdinand an, bevor er einen frechen Tanz begann: „Haha, ich danke dir. Gewiss kann ich nun Thor
dabei helfen, die lieben Kinder zu belohnen und die bösen zu behämmern. Als Lohn werde ich dir ein paar Geschenke
von dem Widderschlitten mausen.“ Ferdinand schmunzelte über das gelungene Schauspiel, obwohl er natürlich die
sprechende Puppenspielerin sah, die sonst hinter einem Vorhang versteckt wäre. Zudem konnte sie nicht ganz durch das
Verstellen der Stimme ihre Feminität verbergen, doch das passte eigentlich zu einem gestaltwechselnden Trickser. „Bitte
nicht“, bat er. „Sonst geht ja ein Kind leer aus. Beschwichtige doch stattdessen Mjölnir, den unartigen Kindern zuliebe.“
„Aber die beschenke ich doch schon hinter Thors Rücken“, flüsterte die Puppe ihm unter vorgehaltene Hand zu. „Aber
gut, ich werde deinem Wunsch Folge leisten. Frohes Fest!“
Mit diesem Frohlocken sackte der Loki wieder zusammen und während Annika ihn aufhob und das Wasser herausfließen
ließ, reichte der Puppenmeister Ferdinand den Lohn: „Sie haben uns sehr geholfen, junger Mann, mit ihrer raschen
Reparatur. Damit ist die Vorführung für den Julmarkt gerettet.“ Ein mahnender Blick hin zu dem Lehrmädchen. „Sofern du
deinen Loki nicht wieder wahrhaftig gegen einen Baum schlagen lässt.“ „Ja, ja, ich weiß“, erwiderte diese. „Meine Lektion
habe ich gelernt: Was wie lebensecht anmutet, ist auch so zerbrechlich wie das Leben.“
„Und ein weiterer zufriedener Kunde“, ließ Meisterin Krummohr die Kasse klingeln. Die graufellige Hasenfrau blickte stolz
entlang der Verkaufstheke hin zu ihrem Gesellen. „Ein sehr gutes Werk, Ferdinand“, merkte sie an, mit ihren geknickten,
langen Ohren winkend, bevor sie ihren Blick auf den Lehrling richtete: „Auch du hast gute Arbeit geleistet, Gaston.“ „Oh,
ich habe nur etwas geleimt“, meinte dieser verlegen, worauf Ferdinand erwiderte: „Mach dich nicht klein. Es war eine
große Hilfe für mich, dass du das mir abnahmst.“ „Zumal dein Griff immer sicherer wird“, stimmte die Meisterin lächelnd
zu. „Im Frühling, denke ich, kann ich dich an die feinfühligen Aufgaben heranführen.“
Ein neuer Kunde kam in den Laden und wurde von der Meisterin begrüßt, während Lehrling und Geselle nach hinten
gingen. Ferdinand nahm sich der nächsten Reparatur an, während Gaston begann, den Raum zu fegen. Da sich das
Geschäft in einem Eckhaus befand, war nicht nur dem Verkaufsraum vorn ein Blick auf die Straße hinaus vergönnt,
sondern man konnte auch in der Werkstatt durch ein Fenster hinaus auf den nahen Platz schauen. Jener war recht klein
und den Großteil des Jahres plätscherte über eine simple, gepflasterte Lichtung nur ein Bächlein des regen Verkehrs der
Großstadt Vitrotis’ hier entlang. Doch wie viele seiner Brüder sollte er nun, zum Ende des Grabmondes hin, der
Schauplatzes eines Julmarktes werden. Viele, gut in dicke Kleidung eingepackte Leute bauten die ersten Stände auf,
während man inmitten des Platzes bereits den großen Julbaum aufgestellt hatte und diesen reichlich schmückte. Eine
Harpyie mit Bommelmütze kletterte gerade eine Leiter hinauf, leicht mit ihren Flügeln umherwedelnd, um das
Gleichgewicht zu wahren, während ihre Hände geschwind eine elektrische Lichterkette zwischen hölzernen
Runenplättchen und gläsernen Widderfigürchen aufhingen. Gaston konnte nicht anders, als beim Fegen innezuhalten
und vollkommen hinauszusehen.
Obwohl noch die nasse Trübnis des ausgehenden Herbstes über den Pflastersteinen ausgelegt lag, konnte der Lehrling
bereits die zarte Weiche des Schneetuches des Winters spüren und das Läuten der Julglocken hören, während er dem
Ankleiden des Baumes beiwohnte. „Hach, der Julbaum ist doch einfach etwas Wunderbares“, seufzte er wehmütig.
„Ohne ihn würde sich das Julfest nicht so heimselig anfühlen.“ „Damit sollte es also kein Wunder darstellen, dass deine
Vorfahren ihn gestohlen haben“, merkte Ferdinand beiläufig an, während er einem Hermes den abgebrochenen
Sohlenflügel zurück an den Schuh anfeuchtete. Diese Bemerkung riss unsanft Gastons Blick vom Fenster weg: „Hä, was
soll bitte das denn heißen?“ „Dass euer Julbaum nichts anderes ist als eine Abkupferung des Weihnachtsbaumes. Wir
haben als Erste Tannen geschmückt, um die Geburt des Messias zu feiern.“ „Was für ein ausgemachter Unsinn“,
schwenkte Gaston barsch mit dem Besen umher. „Als würdet ihr Christen Bäume lieben. Wir, die wackeren
Nordmenschen sind es, die im Einklang mit der Natur sind. Ihr Kreuzverehrer hingegen könnt ja nicht anders, als heilige
Haine niederzubrennen. Eindeutig habt ihr von uns diesen Brauch geraubt. So, wie ihr es mit allem tut. Es ist doch auch
eine glatte Lüge, dass euer Jesus ganz zufällig am Tag des Julfestes geboren wurde. Sicher hat euch das der Loki
zugesteckt.“ „Ach, dir fällt es wirklich schwer sich vorzustellen, dass deine barbarischen Vorfahren, die nur zu gern
unsere Kirchen und Klöster ausraubten, nicht auch einen Weihnachtsbaum mitgehen lassen würden?“, donnerte
Ferdinand zurück, worauf der Streit in wüste Beschimpfungen kippte, denen erst eine über den Lärm erboste Meisterin
Krummohr Einhalt gebieten konnte.
Fortsetzung folgt am nächsten Advent
Bis dahin um Weiterlesen:
In der Adventszeit 2021 wurde die Geschichte von Freyas Gunst veröffentlicht.
In der Adventszeit 2023 wurde die Weihnachtsgeschichte aus Mora veröffentlicht.
Auf Benjamins Blog “Blogpost aus Mora“ finden Sie weitere Geschichten
mit philosophischen Reflektionen über die Götterwelt.