Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 29. Juni 2025
Schulischer Nachteilsausgleich: Time-Out-Raum versus verlässlicher Rückzugsort
© Inez Maus 2014–2025
nach oben nach oben
Die Sommerferien haben in einigen Regionen bereits begonnen, in anderen stehen sie kurz bevor. Eltern eines autistischen Kindes sehen der schulfreien Zeit oft mit gemischten Gefühlen entgegen. Viele sind froh, dass der Stress, der häufig mit dem Schulbesuch des autistischen Kindes einhergeht, für eine gewisse Zeit weniger präsent ist. Andere sorgen sich darum, dass dem autistischen Kind mit dem Wegfall der schulischen Betreuung gewohnte Strukturen fehlen und Eltern für diese Zeit adäquate Betreuung finden oder diese selbst übernehmen müssen. Fast alle Eltern denken am Schuljahresende bereits an das kommende Schuljahr. Was wird sich ändern? Wie können wir mit unserem Kind diese Änderungen meistern? Steht ein Schulwechsel an? Werden unserem Kind die hart erkämpften Nachteilsausgleiche auch im kommenden Schuljahr gewährt? Für einen gelingenden Schulbesuch von autistischen Schülern und Schülerinnen ist ein verlässlicher Rückzugsort unerlässlich. Die Vorstellung davon, was ein verlässlicher Rückzugsort denn sei, variiert allerdings stark. Frage ich in meinen Fortbildungen bei Fachpersonen nach, was darunter zu verstehen ist, dann bekomme ich häufig als Antwort: „Na, das ist so ein Time-Out-Raum“, „Die richtige Bezeichnung dafür lautet Time-Out-Raum“, „Da wird der Schüler hingeschickt, wenn er den Unterricht zu sehr stört“ oder „Der Time-Out-Raum ist ein Raum, in dem sich die Kinder entspannen und ausruhen können.“ Auch in Infomaterialien zur Inklusion findet sich gelegentlich „Time Out“ als „Anhaltspunkt zur Ausgleichserörterung“, wenn „vermehrte Konflikte, mitunter auch aggressives Verhalten“ als „autismustypische Lernvoraussetzung“ (1) auftritt. Im Klartext bedeutet eine solche Formulierung, dass autistische Lernende vom Unterricht ausgeschlossen werden, wenn sie aus Sicht des Lehrpersonals schwieriges Verhalten zeigen. Mit einem Rückzugsort, um Kraft für eine weitere Teilnahme am Unterricht zu sammeln, hat das nichts zu tun. Ein verlässlicher Rückzugsort ist ein reizarmer Ort im Schulgebäude, den der autistische Schüler oder die autistische Schülerin in Überforderungssituationen jeglicher Art aufsuchen kann, bevor die Situation eskaliert. Für viele Schulen scheint die Schaffung eines solchen Ortes ein großes Problem darzustellen, weil Räume und eventuell benötigte Begleitpersonen fehlen. Ein verlässlicher Rückzugsort muss nicht immer ein Raum sein, der keine weitere Funktion erfüllt. Für meinen autistischen Sohn Benjamin diente der Sanitäts- und Ruheraum der Schule als Rückzugsort: „Benjamin musste allerdings während der gesamten Grundschulzeit ein- bis zweimal pro Woche früher aus der Schule abgeholt werden, weil der Schulalltag oft zu anstrengend oder zu lang für ihn war. Die Schulhelferin begab sich bei einer drohenden Überforderung mit unserem Sohn in den Ruheraum und rief mich dann an. Das Nachholen des Unterrichtsstoffes stellte mit meiner Hilfe nie ein Problem dar.“(2) Während seiner Schulzeit kam es nicht ein einziges Mal vor, dass ein verletzter Schüler den Raum benötigte, als Benjamin sich darin gerade von einer anstrengenden Situation erholte. In der Oberstufe dienten dann die Schulbibliothek und die Chill- Zone für die Abiturstufe als Rückzugsorte. Mit einer Gegenüberstellung von Time-Out-Raum und verlässlichem Rückzugsort möchte ich verdeutlichen, warum der erste Begriff eine schlechte Wortwahl für dieses Anliegen darstellt. Die Time-Out-Technik wird angewendet, wenn Kinder oder Jugendliche unerwünschtes Verhalten zeigen. Sie stellt eine Methode der Verhaltenstherapie dar und die erwachsene professionelle Bezugsperson entscheidet, wann ein Verhalten als unerwünscht eigestuft wird beziehungsweise welche Art von Verhalten dieses Kriterium erfüllt. Wird dieses unerwünschte Verhalten von Kindern und Jugendlichen gezeigt, dann soll eine Isolierung von Reizen und Personen – sowohl positive als auch negative Kontakte – dazu führen, dass diese ihr Fehlverhalten reflektieren und danach ändern können. Die Isolierung für eine festgelegte Zeit erfolgt fremdbestimmt durch die betreuende Person. Ein verlässlicher Rückzugsort ist dagegen eine Methode des schulischen Nachteilsausgleiches und ein Ort, den der autistische Schüler oder die autistische Schülerin selbstbestimmt aufsuchen kann, wenn die Situation für ihn oder sie nicht mehr aushaltbar ist. Wichtig ist, dass der verlässliche Rückzugsort jederzeit zur Verfügung steht. Über die Aufenthaltsdauer und die Gestaltung der Zeit am Rückzugsort entscheidet der autistische Schüler oder die autistische Schülerin. Die autistische Person verbleibt so lange am Rückzugsort, bis sie sich der Situation (wieder) gewachsen fühlt. Bei jüngeren Lernenden können diese Aufgaben auch von einer Schulbegleitung übernommen werden. Die Schulbegleitung oder eine andere verfügbare Person kann den Rückzug begleiten, wenn dies notwendig ist. Gegen die Benutzung eines verlässlichen Rückzugsortes wird von schulischer Seite häufig auch damit argumentiert, dass der autistische Schüler oder die autistische Schülerin diesen Raum nutzt, um sich vor bestimmten Aufgaben zu drücken. Dem ist aber nicht so, denn – wie das obige Beispiel zeigt – müssen die autistischen Lernenden den Schulstoff, den sie durch am Rückzugsort verbrachte Zeit verpasst haben, nacharbeiten, ebenso als ob sie durch Krankheit Schulstoff verpasst hätten. Die richtige Wortwahl finde ich bei diesem Thema sehr wichtig, denn sonst besteht bei der Verwendung der Formulierung Time-Out-Raum sehr schnell die Gefahr, autistische Schüler und Schülerinnen zu isolieren, wenn sie aus Sicht des Lehrpersonals „den Unterricht stören“. (1) 2. Themenheft Inklusion, Grundlagen und Hinweise für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) an allgemeinen Schulen (März 2015, www.brd.nrw.de) (2) Zitat aus „Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Mit Autismus durch die Schulzeit“, Maus 2014, Engelsdorfer Verlag