Dürfen Eltern autistischer Kinder trauern?
© Inez Maus 2014–2024
Ein Thema, welches bis heute selten angesprochen wird – sowohl von Fachpersonen als auch von Verwandten und
Bekannten –, ist die Frage, ob Eltern im Zuge der Verarbeitung einer Autismus-Diagnose ihres Kindes Trauer
empfinden dürfen. Und falls ja, worum sie denn trauern?
Als ich dieses Thema vor einigen Tagen in meinem Vortrag auf einem Autismus-Fachtag in einem Krankenhaus im
Land Brandenburg ansprach, erlebte ich eine deutliche Resonanz im Publikum. In der anschließenden Diskussion
äußerte bspw. ein Psychologe: „Ich habe bisher immer nur den Index-Patienten vor mir gesehen.“ Damit meinte er
nicht, dass er die Eltern des Kindes nie zu Gesicht bekam, sondern dass er die Familiensituation bisher nicht in ihrer
Komplexität betrachtet hatte. Im Anschluss an meinen Vortrag wurde ich noch mehrere Male auf das Thema Trauer
bei Eltern angesprochen.
Oft ist zu lesen oder zu hören, dass Eltern eines autistischen Kindes mit Erleichterung auf die Autismus-Diagnose
ihres Kindes reagieren, weil sie damit eine Erklärung für die bisherigen Schwierigkeiten ihres Kindes haben und in der
Regel auch der Zugang zu Hilfen sich öffnet. Allerdings ist dies nur die sprichwörtlich eine Seite der Medaille. Die
andere Seite besteht darin, dass Eltern sehr schnell bewusst wird – und mit der Diagnose haben sie auch die
schriftliche Gewissheit dafür –, dass ihr Kind Schwierigkeiten auf vielen Gebieten haben wird, dass es lebenslang
behindert sein wird.
Bei mir fühlte sich das folgendermaßen an: „[Ich] hatte […] mich einer trügerischen Sicherheit hingegeben und
Benjamin als so eine Art Grenzgänger gesehen, der jederzeit das eine oder andere Land betreten konnte. […] Nun
hatte Benjamin also das schwierige Land betreten und mir verschlug es wieder einmal die Sprache. Ich hatte so viele
Fragen und konnte keine einzige herausbringen, ich hatte unendlich viele Tränen und musste sie alle unterdrücken.
[…] Ich fühlte mich plötzlich wie in einer Sackgasse, obwohl sich eigentlich genau genommen nichts geändert hatte.
Den Problemen wurde doch lediglich ein Name gegeben.“ *
Eine Autismus-Diagnose ihres Kindes bedeutet für Eltern erst einmal, dass sie von vielen Dingen Abschied nehmen
müssen. Sie wissen nun, dass ihr Kind sich nicht so entwickeln wird, wie sie es sich vorgestellt haben. Sie wissen
aber in der Regel nicht, wie sich ihr Kind entwickeln wird – was wird es lernen, wie wird es lernen, wieviel
Unterstützung wird es benötigen … Der Traum, dass die anfänglichen Schwierigkeiten „sich auswachsen“ – der oft
von Kinderärzten und -ärztinnen oder anderen Fachpersonen anfänglich noch genährt wird –, ist ausgeträumt.
Bevor neue Lebenspläne sprichwörtlich geschmiedet werden und bevor auch die Stärken und Fähigkeiten des
autistischen Kindes in die Wahrnehmung der Eltern vordringen und sich einen Platz im Alltag der Familie erobern,
müssen Eltern die Diagnose verarbeiten. Eine Fachperson sagte mir einmal, dass dieser Prozess zehn Jahre dauere.
Sicherlich gibt es hier starke individuelle Unterschiede, aber diese Zahl sagt auf jeden Fall aus, dass die Verarbeitung
nicht von heute auf morgen geschieht.
Um eine neue (schwierige) Situation akzeptieren zu können, muss man von bestimmten Dingen Abschied nehmen.
Einige wenige Eltern eines autistischen Kindes trauern um ein Kind, das nur in ihrer Fantasie existierte. Die meisten
Eltern trauern, weil sie recht schnell realisieren, dass die Einschränkung oder Aufgabe der beruflichen Karriere
mindestens eines Elternteils dem autistischen Kind und der ganzen Familie zugutekommen würde. Finanzielle
Einbußen, die daraus resultieren, können damit zum neuen Problem werden. Auch Freunde, die sich abwenden, weil
den Eltern die Zeit und Energie fehlt, um den Freundeskreis zu pflegen, oder weil den Freunden die gemeinsamen
Aktionen zu anstrengend werden, können als Verlust empfunden werden.
Dieses Abschiednehmen von bestimmten Dingen gelingt nicht durch Verdrängung, sondern nur durch Trauer. Um
oder wegen etwas zu trauern, ist ein mehrstufiger Prozess, der von einer anfänglichen Phase des Funktionierens
übergeht zum langsamen Begreifen der Situation, welches vielfältige Gefühle wie Wut oder Scham mit sich bringen
kann. Erst danach sind Veränderung und Neuorientierung möglich.
Von Eltern autistischer Kinder erwartet die Gesellschaft, dass sie sich mit ihrer Situation auseinandersetzen, sich
arrangieren. Dass sie für ihre Kinder kämpfen, dass sie Dinge organisieren … All das geht nur, wenn sie zuvor die
Möglichkeit erhalten, die Diagnose ihres Kindes zu verarbeiten, ohne dabei bestimmte Gefühlszustände verbergen
oder sich gar für sie schämen zu müssen.
Wenn Eltern in Zusammenhang mit der Autismus-Diagnose ihres Kindes um bestimmte Dinge trauern, dann bedeutet
dies auf keinen Fall, dass sie ihr Kind nicht oder weniger lieben. Es bedeutet, dass sie die besondere Situation
verarbeiten, um dann mit gebündelter Energie nach vorn zu schauen und sich den Anforderungen ihres Lebens aktiv
zu stellen. Aus diesem Grund benötigen Eltern die „gesellschaftliche Erlaubnis“, dass sie trauern dürfen, und – wenn
nötig – Unterstützung oder Begleitung bei diesem Prozess.
* Auszug aus „Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln“, Maus, 2014, Engelsdorfer Verlag, S. 76