Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 30. April 2024
Weglauftendenz bei Autismus
© Inez Maus 2014–2024
nach oben nach oben
In den vergangenen Tagen bin ich immer wieder auf das Weglaufen von autistischen Menschen angesprochen worden. Der vielfach geäußerten Bitte nach Informationen zu diesem Thema komme ich nun mit diesem Blogartikel nach. Autistische Kinder laufen weg, wenn dies die einzig mögliche Handlungsoption in einer stressigen Situation ist, auf die sie zugreifen können. Das Weglaufen beschränkt sich aber nicht nur auf autistische Kinder, auch autistische Jugendliche und Erwachsene können dieses Verhalten zeigen. Weglaufen bedeutet, dass sich das autistische Kind, ohne ein für betreuende Personen wahrnehmbares körperliches oder verbales Signal zu geben, aus einer Situation meist rennend entfernt. Für das Weglaufen gibt es vielfältige Ursachen. Sie reichen von Angst über sensorische Belastungen und soziale Missverständnisse bis zu unerfüllten Bedürfnissen. Auch Langeweile, ein Erschrecken oder körperliche Zustände, die nicht gedeutet werden können, wie beispielsweise Erschöpfung, Hunger, Durst oder Müdigkeit, kommen als Auslöser infrage. Alle diese Auslöser haben die Gemeinsamkeit, dass sie nicht adäquat kommuniziert werden können – entweder, weil das autistische Kind nonverbal ist beziehungsweise mit alternativen Kommunikationsmöglichkeiten den Auslöser nicht benennen kann oder weil es in der entsprechenden Situation nicht auf Sprache oder andere Kommunikationsmittel zugreifen kann. Das Weglaufen kommt daher bei nonverbalen autistischen Kindern häufiger vor als bei sprechenden. Durch das Weglaufen geraten autistische Kinder oft in gefährliche Situationen, wenn sie befahrene Straßen, Bahngleise, Abhänge, Sümpfe oder Gewässer nicht als Gefahrenquellen wahrnehmen oder erkennen. Auch fällt es autistischen Kindern in solchen Situationen schwer, vertraute und fremde Personen voneinander zu unterschieden. Autistische Jugendliche und Erwachsene äußerten in Gesprächen nach Weglaufsituationen häufig, dass sie die auslösenden Umstände als lebensbedrohend empfunden hatten. Bei Eltern führt die latente Angst vor dem Weglaufen des autistischen Kindes oft dazu, dass sie sich hilflos fühlen, weil diese Situationen nicht verhindert werden können. Wenn diese Angst jeden Schritt vor die Tür begleitet, entsteht hier schnell ein schwer zu durchbrechender Teufelskreis. Das Weglaufen von autistischen Kindern lässt sich nur vermindern oder verhindern, wenn die vorausgegangenen Ereignisse rekapituliert werden. Dazu sollten Beobachtungsprotokolle angelegt werden, weil so die Möglichkeit besteht, Muster und Ursachen aufzudecken. Autismus-Hunde können ebenso das Weglaufen verhindern, indem sie einen Alarmknopf betätigen, wenn das Kind versucht, das Wohnumfeld zu verlassen. Außerhalb des Wohnumfeldes ist der Hund mit einer Leine mit dem Kind verbunden. So kann er allein durch sein Körpergewicht ein Weglaufen verhindern. Auch Benjamin, mein autistischer Sohn, lief in seiner frühen Kindheit extrem oft weg. Glücklicherweise ist dieses Weglaufen immer von einer Person in seinem Umfeld bemerkt worden. Als Benjamin am Ende seiner Vorschulzeit begann, sich verbal zu artikulieren, nahmen die Weglauf-Episoden ab. Eine der Weglaufsituationen, die unseren Alltag prägten, habe ich in meinem Buch „Mami, ich habe eine Anguckallergie“ beschrieben. Hier gebe ich einen Auszug wieder: Wenn ich mit meinen beiden Kleinen unterwegs war, kam es immer wieder vor, dass sich gefährliche Situationen ergaben. An einem wunderschönen Wintertag beschloss ich, mit Benjamin Schlitten zu fahren. Da Pascal stark erkältet war und nicht laufen wollte, wurde er dick eingepackt und in den Sportwagen gesetzt. Eine Weile ging alles ganz gut. Ich schob den Sportwagen mühsam durch den Schnee und zog Benjamin auf dem Schlitten hinterher und beide Kinder waren zufrieden. Auf dem Rückweg mussten wir eine kleine Kreuzung passieren, wo es nach rechts zum S-Bahnhof, nach links zu Conrads Schule und dann nach Hause und geradeaus zum Spielplatz ging. Alle diese Wege waren Benjamin meiner Meinung nach bestens vertraut. Wie immer bei einer Richtungsänderung kündigte ich Benjamin an, wohin wir jetzt gehen würden, nämlich nach Hause. Wie immer rief diese Information keine Reaktion hervor. Als ich um die Ecke bog und gerade versuchte, den Kinderwagen die kleine Neigung zur Brücke über den Fluss hochzuschieben, sprang Benjamin wortlos vom Schlitten und rannte in die andere Richtung. Bis zum Bahnhof waren es von der Brücke aus ungefähr zweihundert Meter. Ich erschrak zutiefst, forderte Benjamin auf, stehen zu bleiben und versuchte gleichzeitig, den Kinderwagen zu wenden. Benjamin hatte schon einen beachtlichen Vorsprung, ignorierte meine Rufe und ich versuchte verzweifelt, im Schnee schneller voranzukommen, was wegen des leichten Anstiegs der Strecke eigentlich unmöglich war. Mein Herz raste und ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Auf dem S-Bahnhof stand ein abfahrbereiter Zug. Sollte ich nun Pascal stehen lassen und Benjamin alleine hinterherlaufen oder riskieren, dass Benjamin den Zug erreicht und womöglich einsteigt? Inzwischen weinte mein kleiner Sohn im Kinderwagen und ich schwitzte Blut und Wasser vor Angst. Kurz vor dem S-Bahnhof ließ ich Pascal dann doch stehen, weil ich ihn hier vom Bahnsteig aus sehen konnte. Ich rannte die Treppen hinunter, durch die Unterführung hindurch und während ich die Treppe zum Bahnsteig hochhastete, hörte ich, wie oben der Zug abfuhr. Ich konnte nicht mehr klar denken. Wo war Benjamin? Ich hatte ihn nicht auf der Treppe gesehen. Wilde Horrorszenarien rasten jetzt durch meinen Kopf. Zu meiner großen Erleichterung hörte ich in diesem Moment einen verzweifelten Aufschrei, den ich klar meinem Sohn zuordnen konnte. Als ich oben ankam, fand ich ihn völlig aufgelöst und tränenüberströmt am oberen Ende der Auffahrt für Kinderwagen, Rollstuhlfahrer und Fahrräder stehend vor. Er war diese betonierte Schräge hoch gelaufen, so wie wir es sonst normalerweise auch tun. Diese wenigen Sekunden, die er dafür länger benötigt hatte, reichten glücklicherweise aus, damit er den Zug nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte. Wie froh war ich in diesem Moment, dass er nicht auf die Idee gekommen war, die Treppe zu nehmen. Ich schnappte mir das schreiende Bündel und rannte wieder zurück - die Treppen hinunter, durch den Durchgang, die Treppen wieder hinauf – zu Pascal, der immer noch ängstlich weinte. Ich war so unglaublich froh, dass Benjamin nichts passiert war. Wortlos nahm ich meine Kinder in die Arme und weinte vor Erleichterung mit, bis wir uns alle langsam wieder beruhigten. * * Auszug aus „Mami, ich habe eine Anguckallergie“, Engelsdorfer Verlag, S. 134 f.