Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 28. Januar 2024
Gruppen für Geschwisterkinder
© Inez Maus 2014–2024
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Geschwister eines autistischen Kindes wachsen ebenso wie Geschwister von anderweitig behinderten oder chronisch kranken Kindern unter anderen Bedingungen auf als Kinder ohne diesen speziellen familiären Hintergrund. Oft werde ich gefragt – sowohl von Eltern als auch von Fachpersonen –, was die Geschwister eines autistischen Kindes denn benötigen, was sie brauchen, was ihnen bei der Bewältigung ihres Alltags hilft. Das wichtigste Bedürfnis von Geschwistern autistischer Kinder in Bezug auf das autistische Kind formulieren Geschwisterkinder übereinstimmend wie folgt: „Ich möchte meinen Bruder/meine Schwester verstehen und mit ihm/ihr Dinge gemeinsam tun“. Dazu benötigen die Geschwisterkinder Aufklärung über Autismus und konkrete Handlungshinweise. In Bezug auf die Eltern haben sie das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung, nach Wahrnehmen ihrer Individualität und nach Verständnis für ihre nicht einfache Lage als Geschwisterkind eines autistischen Kindes. Sie möchten sich im Familiengefüge als gleichwertige Mitglieder wahrgenommen fühlen. Viele Dinge, die Geschwisterkindern helfen, mit der speziellen Familiensituation umgehen zu können, habe ich bereits in meinem Buch „Geschwister von Kindern mit Autismus“ thematisiert. Dazu gehören die Aufklärung über die Diagnose der Schwester oder des Bruders, besondere Nachteilsausgleiche im familiären Rahmen für die Geschwisterkinder, die emotionale Stärkung der Geschwister und das Aushandeln von tragfähigen Konzepten des Zusammenlebens. Begleitung von Geschwistern autistischer Kinder beschränkt sich allerdings nicht nur auf das familiäre Gefüge, sondern ebenso auf ihre Außenbeziehungen. Das individuelle Erleben der familiären Situation können Geschwister oft nicht mit Gleichaltrigen teilen, weil diesen schlichtweg das Erleben und Wissen fehlt, um die Situation nachempfinden zu können. Hier können Gruppen für Geschwisterkinder einen guten Dienst leisten, denn sie bringen im günstigsten Fall Geschwister in einer ähnlichen Situation unter kompetenter Leitung zusammen. Angebote für Geschwisterkinder existieren seit vielen Jahren in Form von bspw. Geschwisterwochenenden oder Geschwisterfreizeiten. Geschwister eines autistischen Kindes haben hier allerdings häufig das Problem, dass sie in solchen Gruppen ebenfalls eine Außenseiterrolle einnehmen, da Autismus eine unsichtbare Behinderung ist. Eine junge Frau erzählte mir von ihren Erfahrungen in einer solchen Gruppe Folgendes: „Ich wusste als Kind überhaupt nicht, warum ich dort bin und was ich erzählen sollte. Ich hatte keinen Bruder, der im Rollstuhl saß oder der Spritzen bekam und viele Medikamente nehmen musste. Für die anderen Kinder war mein Bruder gesund.“ Hier liegt es nahe, separate Gruppen für die Geschwister von autistischen Kindern zu gründen. Allerdings scheitert dies oft an mehreren Hürden: die Finanzierung ist nicht sichergestellt, lange Anfahrtswege (die Eltern nicht meistern können, weil das autistische Kind viele Termine hat), die Ausbildung von Fachpersonen zu diesem Thema ist oft unzureichend, entstehende Unkosten (deren Bezahlung sich die Eltern nicht leisten können). Dies alles trifft für Präsenzgruppen zu. Online-Gruppen haben das Potenzial, Geschwisterkinder, die weit verstreut sind, zusammenzubringen. Aber eignet sich solch ein Format für Kinder? Erreicht man sie auf diese Art? Und sind Kinder an solch einer Form von Treffen überhaupt interessiert? Von Fachpersonen wird als Argument gegen Online-Meetings oft angeführt, dass solche Treffen nicht so geschützt sind wie Präsenztreffen, dass man nie wisse, wer da mithört. Sicherlich weiß man nie, wer bei Online-Treffen mithört, aber mit solch einer Vermutung wird Eltern auch eine gewisse Kompetenz im Umgang mit ihren Kindern abgesprochen. Eltern, die ihre Kinder für solch ein Treffen anmelden, wissen doch, warum sie es anmelden – um den Kindern eine Plattform zum Austausch zu bieten. Kompetenten Eltern muss man das Mithören nicht verbieten oder durch physische Maßnahmen unterbinden. Kompetente Eltern werden die Privatsphäre ihres Kindes respektieren und nicht mithören – darauf vertraue ich. Die obigen Fragen stellte ich mir, als der Bundesverband autismus Deutschland e. V. bei mir anfragte, ob ich Geschwisterabende für die Geschwister von autistischen Kindern veranstalten würde. Ich sagte zu, denn wenn ich es nicht ausprobierte, würde ich keine Antwort auf meine Fragen erhalten. Die bisher stattgefundenen Treffen haben mir viele Antworten gegeben und überraschende Erlebnisse geschenkt. An den Treffen nehmen Kinder im Alter von neun bis vierzehn Jahren teil, wobei Jungen und Mädchen ungefähr gleich verteilt sind. Die Kinder sind fast alle sicher in der Benutzung der Technik und falls jemand doch einmal beispielsweise den Chat nicht findet, helfen sie sich untereinander, bevor ich etwas sagen kann, obwohl sie sich kurz zuvor erst kennengelernt haben. Ich fungiere als Moderator und Ideengeber des Geschwisterabends, wobei meine Anregungen und Aktivitäten gut angenommen werden. Einige der Kinder sind sehr aktiv, andere eher zurückhaltend, aber wenn es darum geht, etwas zu zeichnen oder aufzuschreiben, sehe ich, dass auch die zurückhaltenden eifrig bei der Sache sind (ist in Erwachsenengruppen ja ebenso). Sehr berührend war es für mich zu erleben, wie ein Mädchen von großen Problemen in der Familie und fehlenden Rückzugsmöglichkeiten für sich als Geschwisterkind berichtete. Ein anderes Kind sprach es daraufhin direkt an und erzählte, was ihm hilft, wenn es schwierig ist. Auch wenn die beschriebene Aktivität keine Option für das Mädchen ist, so war doch für alle sichtbar, wie gut ihr das Erzählen über die eigene Situation, das Verstandenwerden und das spontane Hilfsangebot, das nicht von einem Erwachsenen kam, tat. Die Geschwisterabende haben ebenfalls schon dazu geführt, dass Kinder über den persönlichen Chat Kontaktdaten austauschten, oder dass mich zwei Kinder baten, am Ende noch für eine Viertelstunde zu zweit sich austauschen zu dürfen. Warum für eine Viertelstunde? „Danach muss ich ins Bett“, war die Antwort des Jungen. Am Ende der bisherigen Geschwisterabende sagten die Kinder, dass sie es gut fanden, andere Kinder in ähnlicher Situation kennenzulernen, dass ihnen meine Visualisierungen (das Wort wurde tatsächlich von einer Elfjährigen benutzt) gefallen haben, dass sie einiges schon aus der Familientherapie kannten und sich darin nun nochmals bestätigt fühlen und dass sie neue Ideen für den Alltag erhalten haben. ***************************************** Kommende Geschwisterabende: 10. April 2024, 18 bis 20 Uhr, online 5. Juni 2024, 18 bis 20 Uhr, online
Geschwister eines autistischen Kindes wachsen ebenso wie Geschwister von anderweitig behinderten oder chronisch kranken Kindern unter anderen Bedingungen auf als Kinder ohne diesen speziellen familiären Hintergrund. Oft werde ich gefragt – sowohl von Eltern als auch von Fachpersonen –, was die Geschwister eines autistischen Kindes denn benötigen, was sie brauchen, was ihnen bei der Bewältigung ihres Alltags hilft. Das wichtigste Bedürfnis von Geschwistern autistischer Kinder in Bezug auf das autistische Kind formulieren Geschwisterkinder übereinstimmend wie folgt: „Ich möchte meinen Bruder/meine Schwester verstehen und mit ihm/ihr Dinge gemeinsam tun“. Dazu benötigen die Geschwisterkinder Aufklärung über Autismus und konkrete Handlungshinweise. In Bezug auf die Eltern haben sie das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung, nach Wahrnehmen ihrer Individualität und nach Verständnis für ihre nicht einfache Lage als Geschwisterkind eines autistischen Kindes. Sie möchten sich im Familiengefüge als gleichwertige Mitglieder wahrgenommen fühlen. Viele Dinge, die Geschwisterkindern helfen, mit der speziellen Familiensituation umgehen zu können, habe ich bereits in meinem Buch „Geschwister von Kindern mit Autismus“ thematisiert. Dazu gehören die Aufklärung über die Diagnose der Schwester oder des Bruders, besondere Nachteilsausgleiche im familiären Rahmen für die Geschwisterkinder, die emotionale Stärkung der Geschwister und das Aushandeln von tragfähigen Konzepten des Zusammenlebens. Begleitung von Geschwistern autistischer Kinder beschränkt sich allerdings nicht nur auf das familiäre Gefüge, sondern ebenso auf ihre Außenbeziehungen. Das individuelle Erleben der familiären Situation können Geschwister oft nicht mit Gleichaltrigen teilen, weil diesen schlichtweg das Erleben und Wissen fehlt, um die Situation nachempfinden zu können. Hier können Gruppen für Geschwisterkinder einen guten Dienst leisten, denn sie bringen im günstigsten Fall Geschwister in einer ähnlichen Situation unter kompetenter Leitung zusammen. Angebote für Geschwisterkinder existieren seit vielen Jahren in Form von bspw. Geschwisterwochenenden oder Geschwisterfreizeiten. Geschwister eines autistischen Kindes haben hier allerdings häufig das Problem, dass sie in solchen Gruppen ebenfalls eine Außenseiterrolle einnehmen, da Autismus eine unsichtbare Behinderung ist. Eine junge Frau erzählte mir von ihren Erfahrungen in einer solchen Gruppe Folgendes: „Ich wusste als Kind überhaupt nicht, warum ich dort bin und was ich erzählen sollte. Ich hatte keinen Bruder, der im Rollstuhl saß oder der Spritzen bekam und viele Medikamente nehmen musste. Für die anderen Kinder war mein Bruder gesund.“ Hier liegt es nahe, separate Gruppen für die Geschwister von autistischen Kindern zu gründen. Allerdings scheitert dies oft an mehreren Hürden: die Finanzierung ist nicht sichergestellt, lange Anfahrtswege (die Eltern nicht meistern können, weil das autistische Kind viele Termine hat), die Ausbildung von Fachpersonen zu diesem Thema ist oft unzureichend, entstehende Unkosten (deren Bezahlung sich die Eltern nicht leisten können). Dies alles trifft für Präsenzgruppen zu. Online-Gruppen haben das Potenzial, Geschwisterkinder, die weit verstreut sind, zusammenzubringen. Aber eignet sich solch ein Format für Kinder? Erreicht man sie auf diese Art? Und sind Kinder an solch einer Form von Treffen überhaupt interessiert? Von Fachpersonen wird als Argument gegen Online-Meetings oft angeführt, dass solche Treffen nicht so geschützt sind wie Präsenztreffen, dass man nie wisse, wer da mithört. Sicherlich weiß man nie, wer bei Online-Treffen mithört, aber mit solch einer Vermutung wird Eltern auch eine gewisse Kompetenz im Umgang mit ihren Kindern abgesprochen. Eltern, die ihre Kinder für solch ein Treffen anmelden, wissen doch, warum sie es anmelden – um den Kindern eine Plattform zum Austausch zu bieten. Kompetenten Eltern muss man das Mithören nicht verbieten oder durch physische Maßnahmen unterbinden. Kompetente Eltern werden die Privatsphäre ihres Kindes respektieren und nicht mithören – darauf vertraue ich. Die obigen Fragen stellte ich mir, als der Bundesverband autismus Deutschland e. V. bei mir anfragte, ob ich Geschwisterabende für die Geschwister von autistischen Kindern veranstalten würde. Ich sagte zu, denn wenn ich es nicht ausprobierte, würde ich keine Antwort auf meine Fragen erhalten. Die bisher stattgefundenen Treffen haben mir viele Antworten gegeben und überraschende Erlebnisse geschenkt. An den Treffen nehmen Kinder im Alter von neun bis vierzehn Jahren teil, wobei Jungen und Mädchen ungefähr gleich verteilt sind. Die Kinder sind fast alle sicher in der Benutzung der Technik und falls jemand doch einmal beispielsweise den Chat nicht findet, helfen sie sich untereinander, bevor ich etwas sagen kann, obwohl sie sich kurz zuvor erst kennengelernt haben. Ich fungiere als Moderator und Ideengeber des Geschwisterabends, wobei meine Anregungen und Aktivitäten gut angenommen werden. Einige der Kinder sind sehr aktiv, andere eher zurückhaltend, aber wenn es darum geht, etwas zu zeichnen oder aufzuschreiben, sehe ich, dass auch die zurückhaltenden eifrig bei der Sache sind (ist in Erwachsenengruppen ja ebenso). Sehr berührend war es für mich zu erleben, wie ein Mädchen von großen Problemen in der Familie und fehlenden Rückzugsmöglichkeiten für sich als Geschwisterkind berichtete. Ein anderes Kind sprach es daraufhin direkt an und erzählte, was ihm hilft, wenn es schwierig ist. Auch wenn die beschriebene Aktivität keine Option für das Mädchen ist, so war doch für alle sichtbar, wie gut ihr das Erzählen über die eigene Situation, das Verstandenwerden und das spontane Hilfsangebot, das nicht von einem Erwachsenen kam, tat. Die Geschwisterabende haben ebenfalls schon dazu geführt, dass Kinder über den persönlichen Chat Kontaktdaten austauschten, oder dass mich zwei Kinder baten, am Ende noch für eine Viertelstunde zu zweit sich austauschen zu dürfen. Warum für eine Viertelstunde? „Danach muss ich ins Bett“, war die Antwort des Jungen. Am Ende der bisherigen Geschwisterabende sagten die Kinder, dass sie es gut fanden, andere Kinder in ähnlicher Situation kennenzulernen, dass ihnen meine Visualisierungen (das Wort wurde tatsächlich von einer Elfjährigen benutzt) gefallen haben, dass sie einiges schon aus der Familientherapie kannten und sich darin nun nochmals bestätigt fühlen und dass sie neue Ideen für den Alltag erhalten haben. ***************************************** Kommende Geschwisterabende: 10. April 2024, 18 bis 20 Uhr, online 5. Juni 2024, 18 bis 20 Uhr, online