 
 
  Was brauchen Geschwisterkinder?
 
  
 
  © Inez Maus 2014–2025
 
 
 
 
 
 
   
   
 
 
  Das ist eine Frage, die mir sehr häufig gestellt wird – sowohl von Angehörigen wie bspw. Eltern oder Großeltern als 
  auch von Fachpersonen. Gemeint sind mit Geschwisterkindern die Geschwister eines Kindes mit Behinderung oder 
  mit einer chronischen Krankheit im Allgemeinen. Wenn eine solche Frage an mich gerichtet wird, geht es in der Regel 
  um Geschwister eines autistischen Kindes im Besonderen. Geschwisterkinder wachsen unter anderen Bedingungen 
  auf als Geschwister von nicht behinderten Kindern, wobei die Formulierung Geschwisterkinder sowohl in der 
  Fachliteratur als auch im Sprachgebrauch vieler Institutionen und Vereinigungen gebräuchlich ist.
  Was brauchen also Geschwisterkinder? Hier drängt sich mir erst einmal eine Gegenfrage auf: Wozu brauchen sie das 
  Was, nachdem hier gefragt wird? Zum einen geht es darum, dass Geschwisterkinder die Chance bekommen, gesund 
  (vor allem psychisch) aufzuwachsen und zum anderen, dass sie ihren mitunter beschwerlichen Alltag gut zu meistern 
  vermögen, wobei Letzteres in der Summe Ersteres bewirkt.
  Auf die Entwicklung von Geschwisterkindern haben sowohl interne (die Familie betreffende) als auch externe (das 
  Umfeld betreffende) Faktoren einen Einfluss.
  Im Alltag gibt es basierend auf einem reichhaltigen Erfahrungsschatz zahlreicher Angehöriger viele Dinge, die 
  Geschwisterkindern helfen, mit der speziellen Familiensituation umgehen zu können. Dazu gehören die Aufklärung 
  über die Diagnose der Schwester oder des Bruders, besondere Nachteilsausgleiche im familiären Rahmen für die 
  Geschwisterkinder, die emotionale Stärkung der Geschwister und das Aushandeln von tragfähigen Konzepten des 
  Zusammenlebens. Alle diese Punkte, auf die ich in diesem Artikel nur kurz eingehen kann, werden in meinem Buch 
  Geschwister von Kindern mit Autismus (Maus, 2017) ausführlich besprochen.
  Geschwister sollten das Wort Autismus in Verbindung mit dem Bruder oder der Schwester zum ersten Mal von den 
  Eltern hören, damit kein Vertrauensverlust entsteht. Die Aufklärung muss möglichst frühzeitig beginnen, um zu 
  verhindern, dass sich Geschwister aus Beobachtungen oder zufällig Gehörtem ein falsches Bild von Autismus 
  machen. Aufklärung über Autismus kann in jedem Alter sowohl von den Eltern oder Verwandten als auch von 
  Fachpersonen durchgeführt werden. Ein wichtiger Aspekt der Aufklärung ist die Thematisierung der Unsichtbarkeit von 
  Autismus.
  Altersgemäße Bilderbücher zum Thema Autismus oder Geschichten ergänzen und bereichern die Aufklärung über 
  Autismus. Geschichten bieten Stoff zum Reden, sie lösen Gefühle aus, und sie vermögen die Welt zu erklären. 
  Geschichten, die Erlebnisse aus dem Alltag und Vorlieben oder Besonderheiten des Kindes mit Autismus in eine 
  fiktive Welt transportieren, eignen sich besonders gut, um Kindern im Vor- und Grundschulalter das nahezubringen, 
  was Autismus ganz konkret bedeutet. Derartige Geschichten habe ich für meine eigenen Kinder – eines ist autistisch – 
  geschrieben. Sie schaffen für die Kinder eine eigene kleine Welt, die es ihnen erlaubt, spielerisch Verständnis, 
  Toleranz und Möglichkeiten zur Interaktion zu erproben und zu erlernen. Diese Geschichten sind einschließlich eines 
  Arbeitsbuches für die erwachsenen Bezugspersonen im Kohlhammer Verlag erschienen (Maus, 2022).
  Geschwisterkinder brauchen spezielle, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Maßnahmen, um ein stabiles 
  Gegengewicht zu den aufwendigen Betreuungsleistungen des autistischen Kindes, die Zeit und Nerven der Eltern zu 
  großen Teilen verschlingen können, zu schaffen. Jedes Kind benötigt in regelmäßigen Abständen zuverlässig das 
  Erleben, dass es im Mittelpunkt des Geschehens steht und auf niemanden Rücksicht nehmen muss, dass für eine 
  gewisse Zeit seine Wünsche und Bedürfnisse uneingeschränkte Beachtung finden. Diese von mir als familiäre 
  Nachteilsausgleiche bezeichneten Maßnahmen orientieren sich an der Persönlichkeit und den Interessen des 
  Geschwisterkindes.
  Das Angebot vielfältiger Möglichkeiten, um Geschwisterkindern ein zwangloses und wertfreies Ausdrücken ihrer 
  Gefühle zu gestatten, schafft für die Geschwisterkinder Räume, um auf lange Sicht weniger impulsiv mit überwiegend 
  negativen Gefühlsregungen umgehen zu können, verstärkt aber gleichzeitig positive Gefühle, weil es sie in einer 
  gewissen Weise einfängt und damit festhält. Dieses Angebot kann von den familiären Bezugspersonen gemacht 
  werden, aber auch bspw. in Geschwistergruppen umgesetzt werden. Geschwisterkinder benötigen die Gewissheit, 
  dass negative Gefühle erlaubt sind, und die Anleitung, wie sie mit diesen Gefühlen umgehen können.
  Geschwister nehmen viele Rollen füreinander ein: Freund, Vertrauter – sie sind Experten für das seelische Erleben 
  jenseits der Elternperspektive –, Vorbild, Verbündeter, Beschützer, Dolmetscher, Motivator, die sichere Basis – um nur 
  einige zu nennen. Einige dieser Rollen gestalten sich aufgrund der sozialen Schwierigkeiten des autistischen Kindes 
  anders. Rollen, die Geschwisterkinder nicht (bzw. nur äußerst kurzfristig) einnehmen sollten sind die des Co-
  Therapeuten, der Aufsichtsperson, der Eltern.
  Geschwister sind einander ähnlich, aber nie gleich. Die Koexistenz von Liebe und Rivalität oder Eifersucht in einem 
  gesunden Maß lässt Geschwister Konfliktlösungsstrategien und Frustrationstoleranz entwickeln. Dies gilt auch für die 
  Geschwister autistischer Kinder, selbst wenn Liebe sich oft anders bemerkbar macht und Eifersucht gelegentlich fehlt 
  oder sehr stark ausgeprägt ist.
  Die Qualität der Geschwisterbeziehung ist immer maßgeblich von den Eltern abhängig – dies gilt ebenso für Familien 
  mit nicht behinderten Kindern wie mit Kindern, die eine Behinderung haben. Das gemeinsame Spielen von 
  Geschwisterkindern mit dem autistischen Kind wird durch autismustypische Besonderheiten erschwert, aber meist 
  nicht ausgeschlossen. Der erste Grundstein, den Eltern für ein späteres gemeinsames Spiel legen, ist das 
  Aufrechterhalten des geschwisterlichen Interesses am autistischen Kind. Fachpersonen sind hier gefordert, den Fokus 
  weniger exklusiv auf das autistische Kind, sondern mehr auf das gesamte Familiensystem zu legen und Eltern in einer 
  positiven Elternschaft zu bestärken.
  Im Umgang mit Geschwistern autistischer Kinder ist es notwendig zu erkennen, dass das Wahrnehmen dieser Kinder 
  mit all ihren Bedürfnissen, die aufgrund der familiären Lage komplizierter sind als die von Gleichaltrigen, nicht nur 
  Eltern betrifft, sondern alle Personen, die in die Betreuung des Kindes einbezogen sind. Wichtig ist die Schaffung von 
  Strukturen, zu denen alle Mitglieder einer Familie mit einem autistischen Kind Zugang haben, ohne vorher 
  bürokratische Hürden überwinden zu müssen.
  Geschwistergruppen bieten Geschwisterkindern die Möglichkeit, andere Kinder in einer ähnlichen Situation 
  kennenzulernen, sich über ihre Gedanken und Gefühle auszutauschen und natürlich Fragen zu stellen. Ab einem 
  gewissen Alter funktionieren solche Gruppen auch in einer Online-Variante, wobei ich die Erfahrung machen durfte, 
  dass viele dieser Kinder sehr versiert im Umgang mit der Technik sind. Am Ende solcher Online-Treffen äußern die 
  Kinder beispielsweise, dass sie es gut fanden, andere Kinder in ähnlicher Situation kennenzulernen, dass ihnen meine 
  Visualisierungen (das Wort wurde so von einem elfjährigen Kind benutzt) gefallen haben und dass sie neue Ideen für 
  den Alltag erhalten haben.
  
 