Briefe an eine Freundin
Zweiter Teil
© Inez Maus 2014–2024
Vor einer Woche veröffentlichte ich einen persönlichen Rückblick auf das vergangene Jahr. Seitdem erreichen mich
Schilderungen ähnlicher und gänzlich anderer Erlebnisse, aber auch das Bedauern, nicht selbst mit einem
Festhalten der Ereignisse des letzten Jahres begonnen zu haben.
Sehr berührt hat mich die Nachricht eines Lesers, der meinen Rückblick als „Briefpostcollage“, die ihn „sehr
angesprochen“ hat, bezeichnete.
Eine Leserin äußerte „ein wenig Bedenken“, weil ich auch über die Erlebnisse mit und von meinem Sohn schreibe
bzw. geschrieben habe. Daher möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, dass Benjamin alle Blogartikel
liest und freigibt, bevor ich sie veröffentliche.
Zu Beginn des Erstellens der „Briefpostcollage“ fragte ich mich: Gibt es am Ende des Jahres Optimismus? Und
wenn ja, woher kommt er?
Im November hatte ich das Gefühl, dass mich seit Beginn der Pandemie deutlich mehr Zuschriften zu meinen
Artikeln erreichten. Inzwischen ist aus dem Gefühl Gewissheit geworden – und das zeigt mir, dass viele Menschen
(mich eingeschlossen) andere Wege gefunden haben, um in Kontakt zu treten und/oder zu bleiben. Dies lässt mich
optimistisch auf das kommende Jahr schauen.
Nun folgt der angekündigte zweite Teil meiner „Briefpostcollage“.
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Januar 2020
Die Dienstreisen beginnen bald wieder und es stehen im Moment Düsseldorf, Lübeck, Leipzig, Göttingen,
Frankfurt a. M. und Aachen vor Ostern auf dem Plan.
Februar 2020
Ich bin schon wieder unterwegs. Gestern in Wuppertal, heute und morgen in Hilden. Es ist Rheinland, also alles ist
auf Karneval eingestellt. Und ich habe mehrere Vorträge. Sitze gerade in einem schnuckeligen Café und verbringe
so die Zeit bis zu meinem abendfüllenden Vortrag. Die beste Neuigkeit: Mein neues Buch ist gestern erschienen!
Ich kann es gar nicht erwarten, es in den Händen zu halten.
Zu meinen drei Veranstaltungen kamen trotz Karneval viele Gäste, was mich und besonders den Veranstalter sehr
freute. Allerdings war der Vortragssaal der Jahreszeit angemessen geschmückt. Selbst die Fenster und die
Toilettentüren waren mit Clown-Gesichtern und Funkenmariechen dekoriert.
Meine Termine im März sehen so aus, dass ich in den kommenden drei Wochen jeweils in der zweiten
Wochenhälfte (einschließlich Wochenende) unterwegs bin.
März 2020
Ich bin im Moment reichlich frustriert. Die Buchmesse ist abgesagt worden.
Die drei Tage in Lübeck waren anstrengend, aufregend, schön, erhellend und frustrierend zugleich. Es gab
bezüglich des Corona-Virus strikte Anweisungen des Gesundheitsamtes und Desinfektionsmittel sowie
Einwegtücher waren reichlich vorhanden. Umarmungen und Händeschütteln waren untersagt. Daran haben sich
meiner Beobachtung zufolge alle Teilnehmer gehalten, sich sogar gegenseitig „erzogen“, wenn jemand seinem
Reflex folgen wollte.
Meine Lesung zum Welt-Autismus-Tag ist abgesagt worden.
Meine übrigen Veranstaltungen, auch alle
Buchvorstellungen (in dieser Woche wären es vier gewesen) sind ebenso abgesagt. Als Selbstständige ist das
bitter.
In dieser Woche sind bei mir die virtuellen Meetings angelaufen. Alle, mit denen ich nun online konferiere, blicken
zuversichtlich nach vorn.
April 2020
Viele meiner Kontakte schreiben über Entschleunigung und „2 Gänge runtergeschaltet“, ich fühle mich nicht
entschleunigt, sondern ausgebremst. Meine Reiseauswertung für März ergab 654 dienstlich zurückgelegte
Kilometer, obwohl nach der ersten Märzwoche alle Termine abgesagt wurden. Inzwischen sind meine Apriltermine
und auch die Termine im Mai abgesagt worden. Ich fürchte, es trifft auch die Juni-Termine.
Lose Enden habe ich im Moment selbst genug, denn sowohl die verschobenen als auch die neu angefragten
Veranstaltungen fressen viel Zeit zum Organisieren. Und was, wenn wieder alles umsonst ist? Du merkst schon,
die Situation beginnt, mich zu zermürben, obwohl sowohl die Anfragen als auch die Projekte, die ich gerade
beginne, mich in einen Freudentaumel versetzen müssten.
Mai 2020
In der vergangenen Woche war alles sehr schwierig. Gefühlte tausend neue Probleme und die Gesamtsituation an
sich haben dazu geführt, dass ich nervlich echt am Ende war. Inzwischen geht es mir etwas besser und im Juni
startet meine Vortragstätigkeit endlich wieder.
Juni 2020
Am Mittwoch hatte ich nach dreimonatiger Zwangspause endlich wieder eine Präsenzveranstaltung. Einerseits
fühlte es sich an, wie eine Rückkehr in die Normalität, andererseits war es alles andere als normal. Die Hygiene-
und Abstandsregelungen, die als Vorgabe vom Senat und in der Ausführung vom Veranstalter stammten, stellten
einen ziemlichen Ablenkfaktor dar. Außerdem musste ich alle Partner- und Gruppenübungen durch irgendetwas
anderes ersetzen.
Am Wochenende habe ich überprüft, ob ich alles, was nicht stattgefunden hat, storniert habe (ja, hatte ich) und
dann eine Übersicht mit den Gutscheinen erstellt. Viele Firmen haben nur Gutscheine ausgegeben, das waren
Kulanzregelungen, weil die üblichen Rücktrittsfristen abgelaufen waren oder regulär nur Anteile ausgezahlt worden
wären.
Juli 2020
Meine Woche war trotz Besuchskind gut gefüllt mit Übungsseminaren, virtuellen Tagungen und einer
Promotionsverteidigung. In der kommenden Woche starten meine Online-Seminare.
Heute fand mein erstes Online-Seminar statt und es ist super gelaufen. Die Hälfte der heutigen Teilnehmer will am
längeren Aufbau-Seminar im Oktober teilnehmen. Noch vor ein paar Wochen wollte ich keine Online-
Veranstaltungen geben und heute habe ich gleich weitere zugesagt.
August 2020
Ich werde die kommenden Seminare von zu Hause aus geben. Eine
gute Kamera mit Raummikro für kleine
Büroräume habe ich mir gerade gekauft – vom Honorar der Seminare
. Nun bin ich also wieder in der Situation
wie zu Beginn meiner Vortragstätigkeit: Damals war es Beamer und Co … Wir haben bereits Regeln für das
Betreten der an mein Arbeitszimmer angrenzenden Räume vereinbart, sodass ich keine Störgeräusche haben
werde.
September 2020
In deiner letzten Nachricht hattest du unter anderem geschrieben: „Dein Berufsleben ist weiter gestört: es dauert
noch, bis Du wieder ein ‚normales‘ Leben hast.“ Das trifft den Kern der Sache sehr gut. Vorgestern ist die
Frankfurter Buchmesse abgesagt worden. Sie wäre wichtig für mein neues Buch gewesen, außerdem ist so ein
Messeauftritt auch immer für den Autor ein beglückendes Erlebnis, nun bleibt nur Leere und Frustration. Ich plante,
die Nachricht positiv zu beenden, nur gibt es im Moment nicht viel Positives zu berichten. Da hilft es vermutlich nur,
noch einmal das schöne Foto von unserer Wanderung im Anhang zu betrachten.
(Titelfoto dieses
Blogbeitrags)
Oktober 2020
Beeindruckt hat mich beim heutigen Seminar die Teilnahme einer Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin.
Da habe ich mich natürlich gefragt, warum diese Frau denn mein Seminar besucht. Sie erzählte, dass sie gerade
unfallbedingt ein autistisches Kind kennengelernt hat und dabei feststellte, dass sie nichts über Autismus weiß.
Daraufhin hat sie nach einem Webinar gesucht und fand meins ansprechend. Sie bekommt dafür allerdings keine
Fortbildungspunkte von der Ärztekammer. Solch engagierte Personen sind mir sehr sympathisch.
Ansonsten ist bei mir alles gleich: Die Absagen steigen mit den Infektionszahlen. Ich schreibe, lektoriere, plane
Vorträge (die noch nicht abgesagt sind) und besuche Webinare, in denen ich lernen soll/will, wie man gute Online-
Seminare gestaltet.
Morgen wäre ich nach Frankfurt zur Buchmesse gefahren und nun – nachdem heute die digitale Messe eröffnet
wurde – kommen die ganzen schwierigen Gefühle wieder hoch. Nun muss ich erst einmal die Unkenrufe, dass es
nie wieder Großveranstaltungen geben wird, beiseiteschieben und meine Kraft auf die positiven Dinge lenken.
November 2020
Mir tut es gut, bei diesem Lockdown „richtig“ arbeiten zu können und nicht nur mit Stornierungen und Planungen
von Veranstaltungen, die dann doch nicht stattfanden, beschäftigt zu sein. Da die Bildungseinrichtungen nicht
geschlossen wurden, darf auch die Erwachsenenbildung in Präsenz stattfinden.
Ich habe das Gefühl, dass mir seit Beginn der Pandemie viel mehr Leute nach Veröffentlichung eines Blogartikels
schreiben, aber vielleicht nehme ich das auch nur bewusster wahr, weil die echten Kontakte so eingeschränkt sind.
Dezember 2020
Da alle zu unterschiedlichen Zeiten Meetings, Seminare … haben, gibt es auch keine gemeinsamen Pausen oder
Mahlzeiten. Arbeit und Freizeit/Familie lässt sich bei mehreren Personen im Homeoffice nicht mehr wirklich
trennen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das in Familien ist, die weniger harmonisch zusammenleben.
Jahrelang habe ich mir gewünscht, dass zu Silvester weniger Knaller gezündet werden, weil die
Geräuschbelastung für Benjamin schwer zu ertragen ist. Jetzt ist dies der Fall, aber er findet es „gespenstisch“ und
hätte lieber Normalität: „Da weiß ich wenigstens, dass es schnell vorbei ist.“
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