Das Kind am Gartenzaun
 
 
 
  © Inez Maus 2014–2025
 
 
 
 
 
 
  
  
 
 
  Vor ein paar Tagen lief ich nach längerer Zeit eher zufällig am ehemaligen Kindergarten meines autistischen Sohnes 
  Benjamin vorbei. Benjamins Kindergartenzeit gehört zu den dunklen Episoden unserer Familiengeschichte, da mein 
  Sohn mit vielen, im Nachhinein betrachtet typischen Auffälligkeiten, aber ohne Autismus-Diagnose in einem 
  Integrationskindergarten zurechtgebogen werden sollte.
  Nachdem wir die Kindergartenzeit unseres Sohnes aus eben genanntem Grund vorzeitig beendet hatten, vermied ich 
  es lange Zeit, an diesem Gebäude vorbeizugehen. Es lag nicht in meinem üblichen Bewegungsradius und geriet 
  somit langsam in eine heilsame Vergessenheit.
  Als ich neulich dort vorbeikam, rannten, tobten und spielten im Garten Kinder, so, wie man dies von einem 
  Kindergarten erwartet. Am Gartenzaun zur Straße allerdings stand ein kleiner Junge, dick eingepackt in 
  Winterkleidung. Mit den unbekleideten Händen hatte er das Gitter auf Höhe seines Kopfes umfasst. Er schaute 
  intensiv die Straße hinunter und schien auf jemanden zu warten. Die Kinder im Garten und die vorbeigehenden 
  Passanten beachtete er nicht.
  Eine ganz alltägliche Szene – und doch versetzte sie mir einen tiefen Stich ins Herz. Nicht, weil dieser kleine Junge 
  unglücklich, ängstlich oder einsam wirkte. Er schien einfach nur zu warten. Aber der Anblick des am Zaun stehenden 
  Jungen riss alte Wunden auf. Er erinnerte mich an einen Tag im Hochsommer – jenen Tag, an dem wir beschlossen, 
  Benjamin aus dem Kindergarten herauszunehmen.
  An diesem Tag wirkte mein Sohn sehr verstört, als ich ihn abholen wollte. Eine seiner Erzieherinnen presste ihn 
  gegen den Gartenzaun am anderen Ende des Gartens. Benjamin, nicht fähig sich verbal mitzuteilen, weinte bitterlich 
  und versuchte wegzulaufen, aber ehe ich bei ihm ankam, riss ihm die Erzieherin die Kleidung vom Körper, weil sie 
  meinte, er wolle unter dem Sprenger duschen. Nackt, voller Panik und in Tränen aufgelöst befreite sich Benjamin aus 
  ihrer Umklammerung und rannte zu mir. Ich setzte mich mit ihm erst einmal auf eine Gartenbank, um ihn zu 
  beruhigen …
  Auf meine Frage nach ihren Beweggründen antwortete die Erzieherin: „Der hat wohl einen Stich von der Hitze.“ 
  Benjamins Angst vor dem Sprenger wurde von einigen Erzieherinnen ignoriert, weil sie die Meinung vertraten, dass 
  alle Kinder im Sommer gern duschen und sich mit Wasser bespritzen. Seine Abwehr von Körperkontakt durch 
  familienfremde Personen wurde ebenfalls ignoriert, weil Kinder sich durch Berührungen trösten oder ermuntern 
  lassen und weil man sie gelegentlich zu ihrem eigenen Schutz festhalten muss. Dem Festhalten würde ich nur 
  zustimmen, wenn sich das Kind in unmittelbarer Gefahr befindet.
  Inzwischen habe ich viele engagierte und über Autismus aufgeklärte Mitarbeiter in Kindertagesstätten und Schulen 
  kennengelernt. Mitarbeiter, die kein Duschen unter dem Sprenger zu erzwingen versuchen, die Körperkontakt nicht 
  mit Gewalt durchsetzen wollen, die Rücksicht auf Besonderheiten der Wahrnehmung dieser Kinder nehmen …
  Oft habe ich das Gefühl, dass sich in den letzten Jahren vieles bei der Betreuung von autistischen Kindern zum 
  Positiven gewendet hat. Manchmal jedoch erreichen mich immer noch schockierende Zuschriften von besorgten 
  Eltern, aber auch von Fachpersonen. Wie beispielsweise der Bericht einer Mutter, deren autistisches Kind beim 
  Kontakt mit Buddelsand schmerzgeplagt weint und aus diesem Grund den Sandkasten meidet. Die „Therapie“ der 
  Erzieherin zum Erreichen von „normalem Spielverhalten“ bestand darin, das Kind mit Sand einzureiben. – Es gibt 
  noch viel aufzuklären!