Blutmond im Wacken der Grillen
© Inez Maus 2014–2024
Computer hatte es seit zwei Tagen verheißungsvoll verkündet: Auf dem Display unseres digitalen Sprachassistenten
wurde in regelmäßigen Abständen auf das zu erwartende astronomische Ereignis der totalen Mondfinsternis hingewiesen,
ohne dabei akustischen Stress zu produzieren.
Am Freitagabend begaben wir uns zusammen mit Benjamin, unserem autistischen Sohn, auf den Weg zu einem Punkt,
von dem aus das Ereignis gut zu beobachten sein sollte. Dieser etwa halbstündige Weg führte aus dem Wohngebiet
heraus, unter Bahngleisen hindurch und an einem See vorbei. Nachdem wir ein Feld mit üppigem Heckenwuchs am
Wegrand und einem Wald als Begrenzung hinter uns gelassen hatten, erreichten wir unser Ziel – eine Brücke, die uns
eine gute Sicht auf den Himmel gewähren würde.
Auf dem Weg dorthin galt es wichtige Dinge zu klären. Die ländlich anmutende Umgebung warf bei Benjamin die Frage
auf, seit wann unser Ortsteil eingemeindet ist. Jeder Schritt in die Geschichte produzierte neue Fragen und Gedanken,
sodass der Weg rasch zurückgelegt war.
Auf der Brücke angekommen erblickten wir genau das, was wir erwartet hatten: einen rötlich scheinenden Mond, der
keine blutrote Farbe aufwies. Ein rötlich scheinender Mond klingt natürlich weniger spektakulär als Blutmond.
Plötzlich fragte mich Benjamin: „Hörst du das?“
Ich grübelte, was er damit wohl meinen könnte.
Ich hörte das Tosen der unter uns fahrenden Autos und LKWs, denn wir standen auf einer Autobahnbrücke. –
Nein, das meinte er nicht.
Ich hörte einen nahenden Zug, der in wenigen Augenblicken die parallel verlaufende Eisenbahnbrücke
passieren würde. – Nein, auch das meinte er nicht.
Ich hörte die Gespräche der Menschen um uns herum, die lebhaft über das Ereignis diskutierten, spekulierten
… , denn es waren viele auf die Idee gekommen, diese sonst eher wenig frequentierte Brücke für Fußgänger
und Radfahrer an diesem Abend aufzusuchen. Ich hörte ihr Fluchen, denn die Mücken ließen sich diese
Einladung zum Abendessen nicht entgehen. – Auch diese Geräusche meinte Benjamin nicht.
Ich hörte metallisch klingendes Aufeinandertreffen, weil Fährräder an das Brückengeländer gelehnt wurden. –
Wieder verfehlte ich das gesuchte Geräusch.
Ich hörte das Ploppen von Kron- und Sektkorken, als die entsprechenden Flaschen hinter uns geöffnet wurden.
– Diese Geräusche waren ebenfalls nicht die gesuchten.
Ich hörte das Klicken von Handys und Kameras, denn fast jeder versuchte, das Ereignis festzuhalten. –
Abermals gelang es mir nicht, das gesuchte Geräusch wahrzunehmen.
Benjamin fragte noch einmal, inzwischen ein wenig ungeduldiger: „Hörst du das wirklich nicht?“ Ich erklärte ihm, dass ich
keine weiteren als die eben aufgezählten Geräusche höre.
Entrüstet rief er daraufhin aus: „Hörst du nicht die Grillen?“ – Die Grillen? Auf unserem Weg zur Brücke hatte ich das
Konzert der Grillen vernommen. Ich bemühte mich jetzt, sehr gezielt wahrzunehmen, aber es gelang mir nicht, aus den
allgegenwärtigen Umgebungsgeräuschen das Zirpen von Grillen herauszuhören.
Benjamin konnte nicht nachvollziehen, dass ich das Zirpen der Grillen hier auf der Brücke nicht zu hören vermochte. Er
beschrieb das Geräusch der Grillen folgendermaßen: „Es fühlt sich so an, als ob die Grillen direkt mit ihren Beinen auf
mein Ohr trommeln. Es ist so laut, als hätte die Grille ein Maschinengewehr als Hinterteil.“
Unsere angeregten Gespräche auf dem Hinweg ermöglichten es Benjamin, die durch mitteilungsfreudige Grillen erzeugte
Pein in den Hintergrund zu drängen. Auf der Brücke angekommen, betrachteten wir zunächst schweigend das
astronomische Ereignis, was den Grillen nun die akustische Invasion von Benjamins Gehörgängen ermöglichte.
Das liebliche Grillenkonzert (meine Perspektive) wird von Benjamin laustärkemäßig wohl so empfunden, wie sich
vermutlich einige der fast zweitausend Einwohner des Ortes Wacken in Schleswig-Holstein fühlen, wenn sich am ersten
Augustwochenende traditionell rund 80 000 Heavy-Metal-Fans in ihrer Gemeinde zum Wacken Open Air treffen.